Grob passiertes Abendessen in städtischen Kliniken um 16 Uhr künftig noch billiger

Der folgende Text ist ein Leserbrief (mein erster!) auf den Artikel „Sanierungskonzept Mindestens ein Viertel weniger Lohn: Klinikum will in den Küchen sparen“. Ich habe keine Ahnung, ob er veröffentlicht wird, aber ich möchte damit ein wenig Druck auf die Mitglieder des Finanzausschusses im Münchner Stadtrat ausüben.

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Es ist schon kein Vergnügen, als Besucher einem Patienten das um 16 Uhr – ja, Sie haben richtig gelesen: um 16 Uhr – von dem am Anschlag arbeitenden Pflegerinnen aufgetragene Abendessen beizugeben, weil er nicht mehr in der Lage ist, es selbst einzunehmen. Darüber könnte man halbwegs getrost hinwegsehen, wäre das frühe Abendmahl von einer Qualität, die wenigstens mit einem Fastfood-Restaurant mithalten könnte. Doch die Leberwurst riecht nach Katzenfutter, und das „Grob Passierte“ wird auf der Karte gar nicht erst spezifiziert. Vermutlich ist es Apfelkompott. Es könnte auch Kartoffelstampf sein – man weiß es nicht.
Es ist das Essen, das schlecht bezahltes Personal zu Dumpingpreisen zusammenstellt; eine ökotrophologische Idee ist nicht erkennbar. Es grenzt an ein Wunder, dass Patienten dieses kulinarische Martyrium ohne Widerspruch über sich ergehen lassen.

Nun sind also die für die Mahlzeiten in den Kliniken zuständigen Mitarbeiterinnen zu teuer, und folglich sollen neu Eingestellte in zwei zu gründenden Servicegesellschaften (sic!) für noch weniger Gehalt für das leibliche Wohl der Patienten sorgen. Da es um Einsparungen geht, ist nicht zu erwarten, dass die wesentlich geringeren Personalkosten eine bessere Qualität der Mahlzeiten für die Patienten zur Folge haben werden.
Im Gegenteil: Man muss befürchten, dass die allenfalls Hygienestandards entsprechenden Mahlzeiten von noch schlechterer Qualität als jetzt sein werden, weil gutes Personal zu Niedrigstlöhnen in einer teuren Stadt wie München eben nicht auf Bäumen wächst. Bedenkt man, dass schon für die Vermittlung von unterbezahltem Fachpersonal auf den Stationen eine Prämie ausgesetzt wird, kann man nur zu dem Schluss kommen: Hier wird eine Milchmädchenrechnung aufgestellt!

Das größte Einsparungspotential ergäbe sich im Übrigen, die Küchen langfristig komplett zu schließen und die Angehörigen anzuhalten, sich selbst um die Mahlzeiten der Patienten zu kümmern. Das wäre wenigstens eine qualitative Aufwertung.

Nachtrag vom 25.08.2017: Bericht in der Abendzeitung

Es gibt keinen günstigen Zeitpunkt

Meine Befürchtung war, dass Hein in Bälde stürzt und sich etwas bricht. Sein Gehen hat sich in den letzten Wochen verschlechtert. Ob es an der Wahrnehmung liegt oder an schwindenden Kräften, weiß ich nicht. Aber seine Stolperer im Treppenhaus bereiteten uns ein wenig Sorge. Sein Tempo verlangsamte sich.

Doch es kam anders.
Am vergangenen Sonntag brach Hein nach einem Spaziergang in der Trambahn zusammen. Die Rettungsdienste, Notarzt und Feuerwehr, waren sehr schnell vor Ort; es gelang ihnen, ihn zu reanimieren.
Seit dem liegt er auf der Intensivstation und ist noch nicht aufgewacht. Was zum Zusammenbruch führte, ist immer noch unklar, was natürlich die Therapie erschwert.
Hein ist in guten Händen, auch wenn Weihnachten Zuhause wesentlich schöner gewesen wäre.

Es gibt keinen günstigen Zeitpunkt, aber am 4. Advent kurz vor Weihnachten im Krankenhaus zu landen, schmeckt sehr bitter.

Isstzustand

Essen ist ist selbstredend im Zweithaushalt ein wichtiges Thema. Warum sollte es hier anders als im Büro, auf dem Elternabend oder in der natürlich rein feuilletonistisch zu verstehenden Restaurantkritik sein? Dank der Fähigkeiten der Köche steht wenigstens die Qualität des täglich Zubereiteten außer Frage. „Sehr fein“, „Hervorragend“ „Klasse“ – alte Menschen sind bekanntlich nicht so leicht zu begeistern; umso mehr sind wir erfreut, vor dem Kochen nicht allzu viele Überlegungen anstellen zu müssen, um Hein zufrieden zu stellen.
Es sind andere Dinge, die dem Essen ein Gewicht geben, das weder auf der Waage noch der Zunge standhalten muss.

Es beginnt bei der Zusammenstellung des Menüs. Die Auswahl soll überschaubar sein.
Neulich gab es Zwiebelrostbraten mit Bratkartoffeln und Rosenkohl. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen schichtete ich die Bratkartoffeln und den Rosenkohl nebeneinander auf einem großen Porzellanteller (praktischerweise habe ich den Rosenkohl in der Bratkartoffelpfanne noch ein wenig ausgeschwenkt), weil ein drittes Geschirr und ein drittes Besteck zur vollkommenen Überforderung Heins geführt hätten. Ein paar Tage später führte die Kartoffelsuppe mit Croutons schon zu Irritationen, weil Teile der Suppe in der Croutonschüssel und nicht auf seinem Teller landeten. Das samstägliche Weißwurstfrühstück nimmt er in der Regel als Trennkost ein – erst die Weißwürst, dann die Brezen. Den Senf teilt er nach Gusto auf.
Am einfachsten wäre der gestrige Eintopf wie die Linsen mit Merges, weil man nur einmal schöpfen muss.

Aber da stellt sich schon das nächste Problem. Der Schöpfer im Topf kann noch so groß sein, die Portion auf seinem Teller kann locker mit Nouvelle Cuisine konkurrieren. Nicht, weil wir ihn auf Diät halten, sondern weil er sich trotz mehrmaliger Aufforderung nicht mehr aufschöpft.
Offenbar spielt Hein das Langzeitgedächtnis einen ganz üblen Streich und erinnert ihn an seine Kindheit. 1939 geboren – wir können uns nur grob ausmalen, was sich in den Familien und speziell in seiner seinerzeit abspielte. Entweder gab es nichts oder nur sehr wenig. Das, was es gab, musste sparsam verwendet werden, oder der Verzehr oblag dem Familienoberhaupt, das über die weitere Zuteilung bestimmte, wenn es satt war. Hein kann es uns nicht mehr erzählen. Wir können ihn nur auffordern, sich so viel zu nehmen, wie er denn wolle. „Es ist Sonntag, und der Krieg ist vorbei“, ist inzwischen ein geflügelter Satz, der allen auf die Nerven geht. Überhaupt hauen wir nicht nur beim Essen die Sprüche raus, mit denen uns unsere Eltern und Großeltern haben. Inwiefern sie ihn auf den Wecker gehen, deutet er nur ab und zu an.
Umgekehrt passiert es häufig, dass er gegen Ende des Abendessens ein Stück Käse auf seinen Teller legt. Dieses teilt er ein sehr großes und ein sehr kleines Stück, das kleine legt er zurück, um das große zu verzehren – ohne Brot. „Brauch ich nicht.“ Weist man ihn auf die in unseren Augen unverhältnismäßige Teilung hin, versteht er nicht, was wir meinen und reagiert äußerst unwirsch.

Aus den Erinnerungen an den Krieg und danach rührt wohl auch Heins Angewohnheit, hier und da eine Zwiebel oder eine Kartoffel zu verstecken. Im Wäschekorb, unter der Spüle, in der Hosentasche, in einem der zahlreichen Bücherregale zwischen Arno Schmidt und Leo Malet, bzw. Picasso und Le Corbusier, auf dem Nachttisch – es könnten wieder harte Zeiten anbrechen. Nicht, dass wir explizit danach suchten, aber irgendwo in der Wohnung finden wir immer wieder so ein Wurzelgemüse – im Vorbeigehen, beim Wäscheaufhängen, beim Zubettgehen.
Suchen kann man danach eh nicht, dafür sind die Wohnung zu groß, seine Verstecke zu vielfältig und wir nicht ständig fahndend. Wir haben weder Krieg noch patriarchalische Familienstrukturen erleben müssen. Doch wenn ich es mir recht überlege, suche ich seit Tagen nach einem Ei, einem rohen (sonst macht’s keinen Spaß!), von dem ich mir einbilde, es letztens im Kühlschrank gesehen zu haben…

Mit der Auswahl an Besteck verhält es sich ähnlich wie mit der nach den Töpfen und Schüsseln. Messer, Gabel und Löffel an seinem Teller befördern eine Auswahl, die Hein überfordert. An schlechten Tagen versucht er, die im Teller verbliebene Sauce mit dem Messer auszulöffeln. An guten Tagen macht er sich einfach und schlürft sie wie jeder Mensch, der seine Kindheit nicht vergessen hat, aus. Die Kuchengabel, die gerade noch im Gewürzgurkenglas steckte, benutzt er gerne, um sich die damit abgeschnittene Butter aufs Brot zu schmieren. Gefährlich wird es, wenn das offen auf der Küchenzeile stehende Quittenkompott mit dem langen Brotmesser gegessen wird. Diese Situation führte nur knapp nicht zu einem von beiden Seiten unbeabsichtigten, Schlagzeilen garantierenden Blutbad.

Schwer wiegt jedoch, dass Hein das Essen vergessen würde, würden wir es nicht zubereiten. Bedürfnisse wie Hunger und Durst äußert er nicht mehr. Regelrecht erleichtert wirkt er, wenn ich einfach nur einen Kaffee koche. Als Reaktion entkommt ihm schon mal ein „Na endlich“. Nicht sehr höflich, aber darauf kommt es nicht mehr an. Das ist auch ein Grund, warum die Obstkörbe gut gefüllt und sichtbar auf der Küchenzeile stehen. Regelmäßig greift er rein und sorgt so auch noch ein wenig für seinen Flüssigkeitshaushalt.

Im Prinzip müssen wir mit dem Isstzustand zufrieden sein. Schlechter wird er von alleine. Bald oder sehr bald.