Es gibt keinen günstigen Zeitpunkt

Meine Befürchtung war, dass Hein in Bälde stürzt und sich etwas bricht. Sein Gehen hat sich in den letzten Wochen verschlechtert. Ob es an der Wahrnehmung liegt oder an schwindenden Kräften, weiß ich nicht. Aber seine Stolperer im Treppenhaus bereiteten uns ein wenig Sorge. Sein Tempo verlangsamte sich.

Doch es kam anders.
Am vergangenen Sonntag brach Hein nach einem Spaziergang in der Trambahn zusammen. Die Rettungsdienste, Notarzt und Feuerwehr, waren sehr schnell vor Ort; es gelang ihnen, ihn zu reanimieren.
Seit dem liegt er auf der Intensivstation und ist noch nicht aufgewacht. Was zum Zusammenbruch führte, ist immer noch unklar, was natürlich die Therapie erschwert.
Hein ist in guten Händen, auch wenn Weihnachten Zuhause wesentlich schöner gewesen wäre.

Es gibt keinen günstigen Zeitpunkt, aber am 4. Advent kurz vor Weihnachten im Krankenhaus zu landen, schmeckt sehr bitter.

Isstzustand

Essen ist ist selbstredend im Zweithaushalt ein wichtiges Thema. Warum sollte es hier anders als im Büro, auf dem Elternabend oder in der natürlich rein feuilletonistisch zu verstehenden Restaurantkritik sein? Dank der Fähigkeiten der Köche steht wenigstens die Qualität des täglich Zubereiteten außer Frage. „Sehr fein“, „Hervorragend“ „Klasse“ – alte Menschen sind bekanntlich nicht so leicht zu begeistern; umso mehr sind wir erfreut, vor dem Kochen nicht allzu viele Überlegungen anstellen zu müssen, um Hein zufrieden zu stellen.
Es sind andere Dinge, die dem Essen ein Gewicht geben, das weder auf der Waage noch der Zunge standhalten muss.

Es beginnt bei der Zusammenstellung des Menüs. Die Auswahl soll überschaubar sein.
Neulich gab es Zwiebelrostbraten mit Bratkartoffeln und Rosenkohl. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen schichtete ich die Bratkartoffeln und den Rosenkohl nebeneinander auf einem großen Porzellanteller (praktischerweise habe ich den Rosenkohl in der Bratkartoffelpfanne noch ein wenig ausgeschwenkt), weil ein drittes Geschirr und ein drittes Besteck zur vollkommenen Überforderung Heins geführt hätten. Ein paar Tage später führte die Kartoffelsuppe mit Croutons schon zu Irritationen, weil Teile der Suppe in der Croutonschüssel und nicht auf seinem Teller landeten. Das samstägliche Weißwurstfrühstück nimmt er in der Regel als Trennkost ein – erst die Weißwürst, dann die Brezen. Den Senf teilt er nach Gusto auf.
Am einfachsten wäre der gestrige Eintopf wie die Linsen mit Merges, weil man nur einmal schöpfen muss.

Aber da stellt sich schon das nächste Problem. Der Schöpfer im Topf kann noch so groß sein, die Portion auf seinem Teller kann locker mit Nouvelle Cuisine konkurrieren. Nicht, weil wir ihn auf Diät halten, sondern weil er sich trotz mehrmaliger Aufforderung nicht mehr aufschöpft.
Offenbar spielt Hein das Langzeitgedächtnis einen ganz üblen Streich und erinnert ihn an seine Kindheit. 1939 geboren – wir können uns nur grob ausmalen, was sich in den Familien und speziell in seiner seinerzeit abspielte. Entweder gab es nichts oder nur sehr wenig. Das, was es gab, musste sparsam verwendet werden, oder der Verzehr oblag dem Familienoberhaupt, das über die weitere Zuteilung bestimmte, wenn es satt war. Hein kann es uns nicht mehr erzählen. Wir können ihn nur auffordern, sich so viel zu nehmen, wie er denn wolle. „Es ist Sonntag, und der Krieg ist vorbei“, ist inzwischen ein geflügelter Satz, der allen auf die Nerven geht. Überhaupt hauen wir nicht nur beim Essen die Sprüche raus, mit denen uns unsere Eltern und Großeltern haben. Inwiefern sie ihn auf den Wecker gehen, deutet er nur ab und zu an.
Umgekehrt passiert es häufig, dass er gegen Ende des Abendessens ein Stück Käse auf seinen Teller legt. Dieses teilt er ein sehr großes und ein sehr kleines Stück, das kleine legt er zurück, um das große zu verzehren – ohne Brot. „Brauch ich nicht.“ Weist man ihn auf die in unseren Augen unverhältnismäßige Teilung hin, versteht er nicht, was wir meinen und reagiert äußerst unwirsch.

Aus den Erinnerungen an den Krieg und danach rührt wohl auch Heins Angewohnheit, hier und da eine Zwiebel oder eine Kartoffel zu verstecken. Im Wäschekorb, unter der Spüle, in der Hosentasche, in einem der zahlreichen Bücherregale zwischen Arno Schmidt und Leo Malet, bzw. Picasso und Le Corbusier, auf dem Nachttisch – es könnten wieder harte Zeiten anbrechen. Nicht, dass wir explizit danach suchten, aber irgendwo in der Wohnung finden wir immer wieder so ein Wurzelgemüse – im Vorbeigehen, beim Wäscheaufhängen, beim Zubettgehen.
Suchen kann man danach eh nicht, dafür sind die Wohnung zu groß, seine Verstecke zu vielfältig und wir nicht ständig fahndend. Wir haben weder Krieg noch patriarchalische Familienstrukturen erleben müssen. Doch wenn ich es mir recht überlege, suche ich seit Tagen nach einem Ei, einem rohen (sonst macht’s keinen Spaß!), von dem ich mir einbilde, es letztens im Kühlschrank gesehen zu haben…

Mit der Auswahl an Besteck verhält es sich ähnlich wie mit der nach den Töpfen und Schüsseln. Messer, Gabel und Löffel an seinem Teller befördern eine Auswahl, die Hein überfordert. An schlechten Tagen versucht er, die im Teller verbliebene Sauce mit dem Messer auszulöffeln. An guten Tagen macht er sich einfach und schlürft sie wie jeder Mensch, der seine Kindheit nicht vergessen hat, aus. Die Kuchengabel, die gerade noch im Gewürzgurkenglas steckte, benutzt er gerne, um sich die damit abgeschnittene Butter aufs Brot zu schmieren. Gefährlich wird es, wenn das offen auf der Küchenzeile stehende Quittenkompott mit dem langen Brotmesser gegessen wird. Diese Situation führte nur knapp nicht zu einem von beiden Seiten unbeabsichtigten, Schlagzeilen garantierenden Blutbad.

Schwer wiegt jedoch, dass Hein das Essen vergessen würde, würden wir es nicht zubereiten. Bedürfnisse wie Hunger und Durst äußert er nicht mehr. Regelrecht erleichtert wirkt er, wenn ich einfach nur einen Kaffee koche. Als Reaktion entkommt ihm schon mal ein „Na endlich“. Nicht sehr höflich, aber darauf kommt es nicht mehr an. Das ist auch ein Grund, warum die Obstkörbe gut gefüllt und sichtbar auf der Küchenzeile stehen. Regelmäßig greift er rein und sorgt so auch noch ein wenig für seinen Flüssigkeitshaushalt.

Im Prinzip müssen wir mit dem Isstzustand zufrieden sein. Schlechter wird er von alleine. Bald oder sehr bald.

Unvergesslich

Seit rund zehn Wochen betreue ich einen Demenzkranken. (Ist das die korrekte Schreibweise? Mangels Internet und Lexika, die schon über 30 Jahre alt sind, kann ich das nicht überprüfen; die Autokorrektur rotringelt es jedoch.) Hein, wie ich ihn hier nenne, ist der Vater eines langjährigen Freunds. Wir sind uns vor seiner Erkrankung öfters begegnet. Ob er sich daran noch erinnert, weiß ich nicht; ich glaube, nicht.
In diese Tätigkeit, die eine 39-Stunden-Woche überschreitet, bin ich so reingerutscht. Nix Geplantes, nix Gewolltes, nix Offzielles. Es ergab sich so. Unter normalen Umständen wäre es anders abgelaufen, aber das ist ein anderes Thema. Womöglich breite ich das ein andermal aus.
Bis dahin – oder darüber hinaus – lesen Sie einfach die Begebenheiten, die mich derzeit beschäftigen. Die Rubrik #2tHaushalt wird sicher kein How-To oder Ratgeber, weil mir dafür der nötige Hintergrund fehlt. Ich bin Erzieher und kein Altenpfleger.

Wie lange ich das mache, weiß ich nicht. Hein ist in einem Stadium, in dem wir noch relativ gut miteinander zurecht kommen. Er mag mich wohl, auch wenn wir schon einige Konflikte ausgetragen haben, die er schneller vergessen hat als ich. Er ist noch das, was man im Allgemeinen „mobil“ nennt und zu leichter Konversation fähig – Loriot hat das in „Pappa ante portas“ sehr prägnant mit „Sitzt und spricht“ formuliert.
Das kann in ein paar Wochen vollkommen anders aussehen. Teile meiner Ausbildung und vor allem meine langjährige Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen mit Mehrfachbehinderung kann ich anwenden, vieles kann ich mir an den Hut stecken und muss es mir selbst erarbeiten.
Distanz ist kein Synonym für Professionalität.

Der wesentliche Unterschied besteht darin zu akzeptieren, dass ich die Entwicklung nicht beeinflussen kann; Erziehung ist zwecklos. Ich kann mich nur wiederholen. Ich kann mich nur wiederholen. Und das ständig. Das machen Eltern auch – mit der berechtigten Hoffnung, dass ihre pädagogischen Ideen in gute Worte gekleidet irgendwann Früchte in Form ohne Aufforderung geputzter Zähne, aufgeräumter Zimmer oder der Erkenntnis, dass gegenüber nicht immer gesprächsbereit ist (Vollmond um 4 Uhr 30!), tragen. In den meisten Fällen wiederhole ich mich jedoch, um nicht etwas zu übersehen. Die Erwartung, dass das die Erinnerung fördert, dient eigentlich nur meinem Gewissen.
Erinnerung ist relativ. Während der Helmut-Schmidt-Fernsehtage anlässlich seines Ablebens rührte sich bei Hein nahezu nichts. Er nahm die Dokumentationen und Rückblicke zur Kenntnis wie meine Worte zum benutzten Taschentuch, das nicht auf den Küchentisch gehört.
Kann er heute etwas nicht mehr, was er gestern noch konnte, kann ich nur hoffen, dass er heute einen schlechten Tag hat und es morgen wieder kann. Aber wo die Abfalleimer sind, werde ich ihm jeden Tag mindestens zehnmal sagen müssen. Deutscher, gründlicher Mülltrennung sei dank, dass es mehrere sind und wir beide beschäftigt sind…
Will Hein jetzt nicht ins Bad, kann ich einen Machtkampf inszenieren (was ich auch hin und wieder mache, weil wir das Haus schon mal verlassen), aber gewinnen werde ich ihn nicht. Noch sieht es eine Stunde und einen Kaffee (für beide!) später besser aus.
Ich werde es ihm auch nicht mehr abgewöhnen, dass er sich nicht irgendwelche Schuhe, die im Flur oder andernorts, wohin er sie verschleppt hat, stehen, anzieht. Dass er an den wenigen kalten Tagen der noch jungen Wintersaison in Sandalen das Haus verließ, konnte ich bis jetzt abwenden.
Umgekehrt muss er sich damit arrangieren, dass ich die Wohnung, so es mir möglich ist, von Grund auf reinige und instand halte, auch wenn er das für „bekloppt“ oder „unnötig“ hält und ihn das Putzen aggressiv macht. Dass dort jahrelang nichts gemacht wurde, kann ich ihm und seiner kürzlich verstorbenen Frau nicht zum Vorwurf machen, aber diese Publikumsbeschimpfungen erwidere ich – gerne auch nach anderthalb Stunden Balkonfensterputzen.
Hinterher entschuldigen wir uns gegenseitig für unsere durchgegangenen Gäule. Und küssen uns.

Dazwischen entdecke ich, dass ich in der Küche außer Schrankschrubben und Cerankochfeldabkratzen noch mehr beherrsche. Ohne mich zu sehr zu loben – zumindest kulinarisch kann ich es mit der berühmten wie unbekannten schwäbischen Hausfrau aufnehmen. Es dauert nicht mehr lange, und ich kann das „Bayerische Kochbuch“ in der Auflage von 1969 auswendig,

Darüber hinaus passiert noch einiges, worüber ich hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit berichten werde, während Andere die Welt retten. Oder es zumindest versuchen.