Unvergesslich

Seit rund zehn Wochen betreue ich einen Demenzkranken. (Ist das die korrekte Schreibweise? Mangels Internet und Lexika, die schon über 30 Jahre alt sind, kann ich das nicht überprüfen; die Autokorrektur rotringelt es jedoch.) Hein, wie ich ihn hier nenne, ist der Vater eines langjährigen Freunds. Wir sind uns vor seiner Erkrankung öfters begegnet. Ob er sich daran noch erinnert, weiß ich nicht; ich glaube, nicht.
In diese Tätigkeit, die eine 39-Stunden-Woche überschreitet, bin ich so reingerutscht. Nix Geplantes, nix Gewolltes, nix Offzielles. Es ergab sich so. Unter normalen Umständen wäre es anders abgelaufen, aber das ist ein anderes Thema. Womöglich breite ich das ein andermal aus.
Bis dahin – oder darüber hinaus – lesen Sie einfach die Begebenheiten, die mich derzeit beschäftigen. Die Rubrik #2tHaushalt wird sicher kein How-To oder Ratgeber, weil mir dafür der nötige Hintergrund fehlt. Ich bin Erzieher und kein Altenpfleger.

Wie lange ich das mache, weiß ich nicht. Hein ist in einem Stadium, in dem wir noch relativ gut miteinander zurecht kommen. Er mag mich wohl, auch wenn wir schon einige Konflikte ausgetragen haben, die er schneller vergessen hat als ich. Er ist noch das, was man im Allgemeinen „mobil“ nennt und zu leichter Konversation fähig – Loriot hat das in „Pappa ante portas“ sehr prägnant mit „Sitzt und spricht“ formuliert.
Das kann in ein paar Wochen vollkommen anders aussehen. Teile meiner Ausbildung und vor allem meine langjährige Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen mit Mehrfachbehinderung kann ich anwenden, vieles kann ich mir an den Hut stecken und muss es mir selbst erarbeiten.
Distanz ist kein Synonym für Professionalität.

Der wesentliche Unterschied besteht darin zu akzeptieren, dass ich die Entwicklung nicht beeinflussen kann; Erziehung ist zwecklos. Ich kann mich nur wiederholen. Ich kann mich nur wiederholen. Und das ständig. Das machen Eltern auch – mit der berechtigten Hoffnung, dass ihre pädagogischen Ideen in gute Worte gekleidet irgendwann Früchte in Form ohne Aufforderung geputzter Zähne, aufgeräumter Zimmer oder der Erkenntnis, dass gegenüber nicht immer gesprächsbereit ist (Vollmond um 4 Uhr 30!), tragen. In den meisten Fällen wiederhole ich mich jedoch, um nicht etwas zu übersehen. Die Erwartung, dass das die Erinnerung fördert, dient eigentlich nur meinem Gewissen.
Erinnerung ist relativ. Während der Helmut-Schmidt-Fernsehtage anlässlich seines Ablebens rührte sich bei Hein nahezu nichts. Er nahm die Dokumentationen und Rückblicke zur Kenntnis wie meine Worte zum benutzten Taschentuch, das nicht auf den Küchentisch gehört.
Kann er heute etwas nicht mehr, was er gestern noch konnte, kann ich nur hoffen, dass er heute einen schlechten Tag hat und es morgen wieder kann. Aber wo die Abfalleimer sind, werde ich ihm jeden Tag mindestens zehnmal sagen müssen. Deutscher, gründlicher Mülltrennung sei dank, dass es mehrere sind und wir beide beschäftigt sind…
Will Hein jetzt nicht ins Bad, kann ich einen Machtkampf inszenieren (was ich auch hin und wieder mache, weil wir das Haus schon mal verlassen), aber gewinnen werde ich ihn nicht. Noch sieht es eine Stunde und einen Kaffee (für beide!) später besser aus.
Ich werde es ihm auch nicht mehr abgewöhnen, dass er sich nicht irgendwelche Schuhe, die im Flur oder andernorts, wohin er sie verschleppt hat, stehen, anzieht. Dass er an den wenigen kalten Tagen der noch jungen Wintersaison in Sandalen das Haus verließ, konnte ich bis jetzt abwenden.
Umgekehrt muss er sich damit arrangieren, dass ich die Wohnung, so es mir möglich ist, von Grund auf reinige und instand halte, auch wenn er das für „bekloppt“ oder „unnötig“ hält und ihn das Putzen aggressiv macht. Dass dort jahrelang nichts gemacht wurde, kann ich ihm und seiner kürzlich verstorbenen Frau nicht zum Vorwurf machen, aber diese Publikumsbeschimpfungen erwidere ich – gerne auch nach anderthalb Stunden Balkonfensterputzen.
Hinterher entschuldigen wir uns gegenseitig für unsere durchgegangenen Gäule. Und küssen uns.

Dazwischen entdecke ich, dass ich in der Küche außer Schrankschrubben und Cerankochfeldabkratzen noch mehr beherrsche. Ohne mich zu sehr zu loben – zumindest kulinarisch kann ich es mit der berühmten wie unbekannten schwäbischen Hausfrau aufnehmen. Es dauert nicht mehr lange, und ich kann das „Bayerische Kochbuch“ in der Auflage von 1969 auswendig,

Darüber hinaus passiert noch einiges, worüber ich hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit berichten werde, während Andere die Welt retten. Oder es zumindest versuchen.

2 Gedanken zu “Unvergesslich

  1. Hallo Ben, schön von Dir zu lesen. Nicht nur ich, auch andere haben sorgenvoll nach Dir gefragt.
    Weiterhin viel Geduld mit Hein und lass es Dir gut gehen!

  2. Hi Ben!

    Freue mich sehr, Neues vom Stadtneurotiker zu lesen!!!

    Apropos „schwäbische Hausfrau“ … kennst Du den:

    Frage:
    >>Was ist das größte Kompliment, dass Du einer schwäbischen Hausfrau machen kannst?<>Mei, schaust Du abgearbeitet aus!<<

    Es grüßt Dich sehr die Sylvia (auch abgearbeitet wie eine schwäbische Hausfrau …)

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