Geschichtstrainingslager

Irgendwann ging es gestern Nachmittag auf Twitter auf einmal um Klassenfahrten. Abgründe in Form Lehrern in Unterhemden und Haifischketten taten sich auf. Heinz Kamke beteiligte sich daran nicht, äußerte aber als stiller Genießer den Wunsch, den einen oder anderen ausführlichen Erlebnisaufsatz lesen zu wollen.
Et voilà!

Zu Klassenfahrten kam ich erst sehr spät. Schullandheime waren in der Grundschule noch nicht üblich, zumindest an meiner. An den Skilagern in der Mittelstufe nahm ich mangels Geld und dafür nicht geeigneter Gelenken nicht teil. Ich war also bereits volljährig, als ich mit der Schule erstmals auf Reisen gehen durfte.

Jede 11. Klasse unternahm eine Studienfahrt nach Berlin.
Der Jahrgang über uns erlebte noch alle Grenzschikanen und sonstigen Einschränkungen, wir brachen drei Tage nach der Wiedervereinigung, an einem Samstag, mit zwei Bussen und zwei Fahrern namens Toni auf. Begleitet wurden wir von vier oder fünf Lehrkörpern, die diese Studienfahrt schon mehrere Jahre betreuten, und einer jungen Biologielehrerin, für die es der erste große Ausflug war. Der Musiklehrer, der sehr viel wusste, ließ es sich nicht nehmen, die lange Fahrt über die Großverbundplattentansitautobahn mit Geschichten über das geschichtssträchtige Berlin zu verkürzen, aber es hörte ihm nur sein Kollegium zu. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, sieht man davon ab, dass einer der Tonis die vereinbarte Raststätte zu spät sah und einige Meter rückwärts fuhr, was einige frisch gebackene Führerscheininhaber in unseren Reihen empörte. Auf meine Nachfrage, warum man auf der Autobahn nur vorwärts fahren dürfe, erntete ich verständnisloses Gelächter.

Es dämmerte, als wir unser Ziel erreichten. Das Jugendgästehaus Central im Herzen West-Berlins unweit des Kudamms war ein spartanisch eingerichteter Schuppen mit Stahlrohrstockbetten. Man konnte wenig kaputt machen, aber dafür sollten wir eh keine Zeit haben.
Kaum waren wir angekommen, hatten wir gerade Zeit, unser Gepäck abzulegen und die Betten zu beziehen, bevor wir zur ersten Sehenswürdigkeit gefahren wurden.
So ging es in den kommenden sechs Tagen auch. Das Programm war dicht gepackt. Ich weiß nicht mehr, was wir alles gesehen haben. Pergamonmuseum, Reichstag, Straße des 17. Juni, Checkpoint Charlie, Schloß Charlottenburg, Schloß Sanssouci, Dahlem, Brandenburger Tor, Märkisches Viertel, Potsdamer Platz (auf dem man allerhand NVA- und Rote Armee-Devotionalien erwerben konnte), usw. Dazu gab es viele Vorträge, so dass sich die Studienfahrt kaum vom uns bekannten Frontalunterricht unterschied. Ein knackiges Programm, das durch viele im schlechtesten Sinne lehrerhaften Einlassungen mitunter zur schwer verdaulichen Kost wurde. Man kann es auch als Geschichtstrainingslager bezeichnen, das nur durch krude Theorien der mitfahrenden Geschichtslehrerin unfreiwillig aufgelockert wurde.

Gegen 19 Uhr, nach dem Abendessen, war das Tagesprogramm beendet. Wir hatten Freizeit.
Bis 23.30 Uhr.
In Worten: Dreiundzwanzig Uhr Dreißig!
Halb Zwölf!
In Berlin!
Dementsprechend war in den Kneipen, die wir aufsuchten, wenig los. Unsere Lehrkörper waren kulturell und historisch sehr beschlagen, aber was man außer Museen besichtigen kann, wussten sie nicht. Oder sie behielten ihr Wissen für sich.
So lungerten wir meistens in Kneipen rund um den verblassenden Kudamm rum. Ich lernte Kristallweizen kennen, ein Getränk, das ich bis heute nicht verstehe.
Der Osten wäre sicher interessanter gewesen, aber wir waren jung und dumm, und die Anreise zog sich auch hin. Bis wir am Prenzlauer Berg gewesen wären, hätten wir fast schon umkehren müssen, um pünktlich am Eingang vom diensthabenden Lehrkörper empfangen zu werden.
Nach dem Schlafengehen aus dem Fenster zu steigen, war auch keine Option, denn die Fenster waren vergittert. (Etwas, was ich rund 20 Jahre später erst wieder in der Psychiatrie erlebte). Der Kunstlehrer drehte in unregelmäßigen Abständen in seinem ägyptischen Kaftan seine Runden und ermahnte uns zur Nachtruhe.
Ein kleiner Teil durfte allerdings einmal länger ausgehen. Rainer, musikalisch versiert, überzeugte unseren Musiklehrer von der Notwendigkeit, ein Jazzlokal zu besuchen. Ich bekam davon rechtzeitig Wind und gehörte zu dem elitären Kreis von fünf, sechs Schülern, die einer Jam Session im Quasimodo in der Kantstraße beiwohnen durften und erst um 1 Uhr in den Gitterpalast zurückkehren mussten.

Am siebenten Tag wurde uns schon der Nachmittag zur freien Verfügung gestellt. Die Zeit nutzte ich, um im Westen Doppeldecker sowie im Osten Rekowagen und KT4 zu fahren.
An diesem Tag durften wir auch länger ausgehen. Bis 0.30 Uhr, wenn ich mich nicht irre. Die Nachtwache war in der Nacht auch nicht mehr so streng. Aber daran erinnere ich mich nur noch fragmentarisch, weil ich unangenehme Erfahrungen mit Gin machte. Als Andenken an diese Nacht brachte ich mit einer Nagelschere gekürzte Haare mit. Meine Mutter unternahm nach meiner Heimkehr einige Anstrengungen auf, um diesen Schnitt in eine Frisur zu verwandeln.

Die Fahrt nach Moskau und Kiew ein dreiviertel Jahr später war ein vollkommen anderes Erlebnis, weil uns die begleitenden Lehrkörper nicht gekannte Freiheiten gewährten, obwohl es Geschichte ebenfalls in nicht-homöopathischen Dosen gab.

[Curi0us beteiligte sich als erster am Klassenfahrtsblogtextcontest: „Monika, och…“
Wer mag, darf sich sich gerne daran beteiligen. Ich sammle de Erinnerungen gerne in einem eigenen Artikel.]

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