„Ist das wirklich umsonst?“

Eindrücke aus der Messestadt Riem

Die Messestadt ist in den letzten Wochen erneut zu Unrecht in Verruf geraten. Der Mord auf offener Straße im vergangenen Frühjahr war und ist Wasser auf die Mühlen der Menschen, die das Viertel schon immer für ein Ghetto war. Meines Wissens war das der einzige große Vorfall in den letzten Jahren. Aber um Fakten geht es selten, wenn ein Bild manifestiert werden soll. Dass es mitten in der Stadt, zum Beispiel im Stachus-Untergeschoss, wesentlich mehr Gewaltdelikte gibt, wird ignoriert.

In dem Viertel ist städteplanerisch so ziemlich alles falsch gemacht worden, was man nur falsch machen kann. Sinnbildlich steht dafür die Betonwüste mit Einkaufszentrum Willy-Brandt-Platz. Das ist „München für Fortgeschrittene“ und entfaltet seine Blüte an grauen Novembertagen so richtig. Platz, ja sogar öffentlichen Raum, gibt es eigentlich genügend, aber es wird nichts daraus gemacht. Er ist nicht attraktiv. Auf Beton und Stein hält man sich eben auch im öffentlichen Raum ungern auf – im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt. Und mangelnde Wertschätzung für eigentlich nicht vorgesehene Nutzende drückt sich auch in Vandalismus aus.
Was die Messestadt rettet, ist der Riemer Park mit See. Ein im Nachhinein gelungenes Ensemble mit Schönheitsfehlern als Abfallprodukt einer erfolglosen, weil typisch für München überambitionierten Bundesgartenschau. Er ist Anziehungspunkt für Menschen aus dem Viertel, aber auch aus angrenzenden wie Trudering, Neuperlach sowie Nachbargemeinden wie Haar und Vaterstetten. Aber das ist ein Vergnügen, das jahreszeitlich überschaubar und wetterabhängig ist.

Spricht man mit Anwohnenden aus dem Viertel, wird schnell deutlich, dass die meisten gerne in der Messestadt wohnen. Teilweise leben sie sie über 15 Jahren dort. Das ist kein Stockholm-Syndrom, sondern Liebe. Zur Hood. Nachbar*innen, Orten – gerne werden auch die Riem Arcaden erwähnt –, soziokulturellen Vielfalt, und der Anbindung (U-Bahn!). Seit kurzem gibt es auch eine Stadtbibliothek – nach rund 25 Jahren. Das ist auch eine Aussage. Nur die Messebesucher*innen mögen sie nicht so. Wer mal während der Bauma durch das Viertel spaziert, kann das nachvollziehen.
Und sie wehren sich gegen die Stigmatisierung ihres Viertels, ihrer Herkunft. Die Jugendlichen belastet es, als Ghettokids gebrandmarkt zu werden. Sie negieren nicht mal Konflikte untereinander (die es in angeseheneren Viertel sicher auch gibt), aber sie wollen nicht darauf reduziert und deshalb diskriminiert werden.
Dem Babo der Messestadt, dessen Sohn die 2. Generation vertritt, zuzuhören, ist sehr wertvoll. Er differenziert zwischen Polizei und Polizei. „Die aus dem Revier sind in Ordnung.“ Das Problem sind die schwarzen Bereitschaftspolizist*innen, die das Viertel und ihre Bewohner*innen nicht kennen, was zu Eskalationen führt. Dazu tragen auch Jugendliche bei, die sich an falscher Stelle messen wollen – und immer den Kürzeren ziehen. Im schlimmsten Fall geraten sie in eine Spirale, aus der sie nur schwer oder gar nicht herauskommen. Dabei reden wir von Jugendlichen, Pubertierenden, die ihre Hormone qua Alter noch nicht im Griff haben können (und müssen!). Da knallt es eben mal.
Aber wenn Du aus der Messestadt bist und einen sogenannten Migrationshintergrund hast, hast Du wenig Möglichkeiten, Dich ohne Konsequenzen natürlich altersgemäß zwischen den Grenzen zu bewegen.

Dass sich der seit 15 Jahren versprochene Spielplatz vor der Haustür immer noch im Anfangsstudium befindet, wird angesprochen. In anderen Vierteln wäre das ein großes Thema. Aber scheinbarer Parkplatzklau in der Au ist wichtiger als ein Spielplatzfragment in der Messestadt.

Bevor Sie den Eindruck gewinnen, ich sei ein Messestadt-Experte, möchte ich anmerken, dass ich lediglich das zweite Jahr als Honorarkraft für die Stadt in dem Viertel arbeite. Und das auch nur im Sommer. Ich bin also nicht mehr als ein Schönwetter-Experte.

Das Allparteiliche Konfliktmanagement in München, kurz AKIM, bekommt immer wieder Mandate für die Messestadt. So waren wir letztes Jahr am Riemer See, um die dort Badenden, den See Genießende und eben auch Feiernde zu befragen, wie sie es dort finden, was sie für verbesserungswürdig halten (Toiletten, Kiosk, Beleuchtung in der Dunkelheit), woher sie kommen und überhaupt und sowieso. Konkretere Antworten entnehmen Sie bitte dem Jahresbericht 2022 (Seiten 7 und 8).
Seit ein paar Wochen sind wird dort, um mit Anwohnenden an verschiedenen Orten im Viertel ins Gespräch zu kommen. Das ist eine Konsequenz aus der Berichterstattung Anfang Juli.

Seit letzter Woche sind wir zusätzlich mit dem Projekt „Wir sind Messestadt“ auf der Südseite der Riem Arcaden zwischen Willy-Brandt-Platz und Platz der Menschenrechte. Wir sind unter der Woche nachmittags vor Ort und stellen Sitzsäcke zur Verfügung. Das Angebot richtet sich primär an Kinder und Jugendliche aus dem Viertel. Auf der Schotterfläche wird der farbige Blickfang sehr schnell wahrgenommen.
Kinder stürzen sich sofort darauf. Sie lassen sich sogar einfach fallen. Wo im öffentlichen Raum kann man sich einfach so fallen lassen? Oder sie spielen mit den Sitzsäcken. Man kann sich auf und unter Sitzsäcke legen und Sandwich spielen. Man kann sich auch damit bewerfen, tut ja nicht weh. (Liebe Erwachsene: Nicht nachmachen! So etwas können nur Kinder. Wenn wir das machen, brechen wir uns alles – und schauen dabei noch ziemlich peinlich aus.)
Erwachsene sind anfangs skeptischer, lassen sich aber nach einer kurzen Phase des Beobachtens nieder und genießen ihren Coffee to go. Einer bedankte sich für „eine chillige Mittagspause“ und will wiederkommen.

Und die 3. Bürgermeisterin Verena Dietl war am Dienstag vor Ort und nahm eine Sitzprobe. Sie hatte Spaß.

Über allem steht die Frage: „Kostet das was?“
„Nein, das kostet nichts.“
„Was, ist das wirklich umsonst?“
Nun ist München nicht für kostenfreie Angebote bekannt, aber ich musste schlucken, als ich heute dieses Gespräch führte. Dass sich Kinder und Jugendliche einen Sitzsack über Nacht kostenlos ausleihen dürfen, ist noch weiter von der Vorstellungskraft entfernt.
Was einem Großteil der in der Messestadt Lebenden gemein ist, dass sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sie sind es gewohnt, für etwas bezahlen zu müssen. Das können sie sich nicht leisten und sind somit von vielen Dingen ausgeschlossen.
Die Kommerzialisierung des öffentlichen Raum ist nicht nur in der Messestadt ein Problem. Aber es drückt sich in einem stigmatisiertem Viertel deutlicher aus.

Es ist auch nicht so, dass in der Messestadt nichts passieren würde. Viele, auch Familien, erzählen, dass schon etwas geboten werde. Aber ich gewinne den Eindruck, dass einiges nebeneinander, aber nicht gemeinsam angeboten wird.
Ich kann nicht beurteilen, inwieweit die einzelnen Angebote die Familien, Kinder und Jugendlichen erreichen. Dafür bin ich zu sehr Außenstehender. Ich höre nur zu – und biete etwas an. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Das interessante an der Tätigkeit sind die Nebensätze und die Beobachtungen.

Manchmal geht es auch nur um Verantwortung in Kleinen.
Wenn mich ein Zehnjähriger im Beisein seiner Mutter fragt, wer denn nun den Leihvertrag für den Sitzsack unterschreiben darf, und ich sage: „Du“, wächst der junge Mensch binnen Sekunden neben mir.

Es steckt sehr viel Potenzial in der Messestadt. Es ist ein junges Viertel, das nicht so saturiert wie viele andere innerhalb des Mittleren Rings mit seinen schönen Altbauwohnungen ist. Die Chance, aus diesem Potenzial, dieser soziokulturellen Vielfalt zu schöpfen und es nicht zu stigmatisieren, ist noch vorhanden.

Links:
Allparteiliches Konfliktmanagement in München (AKIM)
Aktion „Wir sind Messestadt“ Montag-Freitag zwischen 14 und 16 Uhr bis 22.09. an den Riem Arcaden (Südseite) zwischen Willy-Brandt-Platz und Platz der Menschenrechte

Ein Gedanke zu “„Ist das wirklich umsonst?“

  1. Sehr wertvoller Beitrag, vielen Dank! Ich kann mich dran erinnern, dass der Bayerische Rundfunk letztes Jahr mal einen Beitrag zur Messestadt gebracht hat. Auch da kamen viele Leute zu Wort, die freiwillig ihre innerstädtischen Altbauwohnungen für die Messestadt verlassen haben und dort regelrecht aufblühen.

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